Jörg Wickram | * um 1505 in Colmar | † vor 1562 in Burkheim (Vogtsburg im Kaiserstuhl) | frühneuhochdeutscher Schriftsteller
 
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Der Künstler

Die Germanistik hat Wickram lange unterschätzt, er wurde bis weit ins 20. Jh. vorwiegend als biederer, volkstümlicher Verfasser von Schwänken und erbaulichen Erzählungen bzw. Romanen betrachtet und das Werk zwar als authentisch, aber doch auch naiv bewertet. Teilweise wurde es sogar dafür genutzt, das Elsass als immer noch ‚deutschen Kultur- und Lebensraum’ zu beanspruchen. Man berief sich in den abwertenden Urteilen auf Selbstaussagen des Autors (z.B. „mein schlechter verstandt und ringe kunst“), ohne diese als Bescheidenheitstopos zu erkennen und den gleichzeitig vorgetragenen Ansprüchen gegenüberzustellen („Dieselben reimen hab ich nit alleyn geendert oder corrigiert, sunder gantz von neüwem nach meinem vermögen inn volgende ordnung brocht und auch mit schlechter kunst als ein selbsgewachßner moler mit figuren gekleidet“ versus „Yederman lüstlich, besonders aber allen Malern, Bildthauwern, vnnd dergleichen allen künstnern nützlich, von wegen der artigen Inuention vnnd Tichtung“, Widmung bzw. Titel der Metamorphosen-Ausgabe).

Die Auseinandersetzung mit dem Werk – ohnehin fast nur auf
Das Rollwagenbüchlein und Der Goldfaden beschränkt – bezog sich weitgehend auf gattungsästhetische und sozialgeschichtliche Fragestellungen, stützte sich nur auf die Texte und klammerte die Abbildungen aus. Man wusste zwar, dass zumindest die Illustrationen zu Wickrams Metamorphosen-Ausgabe von ihm selbst stammen, tat diese aber in der Regel vorschnell als grob oder gar dilettantisch ab. Seine Tätigkeiten als Regisseur städtischer Theateraufführungen, als Buchhändler sowie Gründer und Leiter der Colmarer Meistersingerschule wurden zwar registriert, aber letztlich nur zur Erhellung der Biografie genutzt. Heute beurteilt die germanistische Forschung Wickrams Schaffen wesentlich differenzierter und widmet ihr Interesse dem gesamten Werk und allen Tätigkeiten dieses vielseitigen und produktiven Künstlers.

Wickram künstlerische Tätigkeit begann vermutlich damit, dass er sich in seiner Heimatstadt als Organisator und Spielleiter von Theateraufführungen hervortat, für die er auch die Textvorlage lieferte. Zu Fastnacht 1531 wurde „durch ein ersame burgerschafft einer loblichen Statt Kolmar“ das Spiel Die zehen alter der welt aufgeführt, welches im selben Jahr ohne Verfasserangabe gedruckt wurde, aber eindeutig aus Wickrams Feder stammt. Allerdings handelt es sich hierbei um eine Bearbeitung und Erweiterung einer Vorlage des Pamphilius Gengenbach aus Basel. Die neue Version war aber so erfolgreich, dass sie in Druck und Aufführungen zahlreiche Wiederholungen erlebte, auch 1542 in Colmar unter Wickrams Leitung. Er und die Laiendarsteller erhielten dafür ein Anerkennungshonorar aus der Stadtkasse. Auch für Fastnacht 1532 lieferte Wickram ein Spiel, nämlich Der treue Eckart, das er selbstständig verfasste und unter seinem Namen veröffentlichen ließ, 1537 wird zur Herrenfastnacht Das Narrengießen aufgeführt (gedruckt 1538), 1543 lässt er Ein neues Fastnachtsspiel von Weiberlist drucken.

Zu hohen kirchlichen Feiertagen waren ebenfalls Theateraufführungen üblich, mit christlich-erbaulichen Inhalten, etwa zu Ostern ein Passionsspiel, wie es 1534 für Colmar belegt ist. Von Wickram sind drei geistliche Spiele überliefert: Von dem verlorenen Sohn (1540 gespielt und gedruckt), Tobias (1550 gespielt, 1551 gedruckt) und Das Apostelspiel. Letzteres wurde allerdings nicht in Colmar aufgeführt, sondern „Im M. D. L. Jar zů Newenburg im Breißgauw von einer Erbarn/Ersamen Burgerschafft auff Laurenti/fleissig gespylt“ (also am 10. August 1550 in Neuenburg am Rhein gespielt, gedruckt 1552).

Anfang 1539 lässt Wickram ein Buch drucken, das – gemessen an der Zahl von 25 Auflagen – sein erfolgreichstes ist und der Unterhaltung und der Lust am interaktiven Spielen dient, Das Losbuch:

"Ein schöne vnnd fast schimpfliche kurtzweil, so durch vmbtreiben eyner scheiben, Allten vnd Jungen, mann vnnd weiblichen personen, auch den Züchtigen Junckfrawen, zů traurigen zeitten vil lächeriger vnnd schimpflicher sprüch vnd fürbildtnüssen fürbringet, den menschen kurtzweil zů machen, vnd die traurigen schlaferigen gemüter, widerumb zů lachenden freyden zu bewegen vnnd erwecken. Vmb kurtzweil an tage gegeben."

Das ist ein Gesellschaftsspiel, bei dem die vier Spieler (Mann, Frau, Jüngling, Jungfrau) eine Rosette auf dem Buchdeckel drehen müssen. Wenn das Buch danach aufgeklappt wird, kommt eine Scheibe zum Vorschein, die mit vier Buchstabenkreisen bedruckt ist und einem Zeiger, der auf einen Buchstaben weist. Diesem ist die Abbildung einer komischen Figur zugeordnet, von der der Spieler eine ‚Losung’ in Versform erhält, gewissermaßen einen Orakelspruch. Zum Beispiel werden die Verheirateten mit heimlichen Liebschaften geneckt, die Jünglinge mit Liebesabenteuern, es wird reicher Kindersegen versprochen oder eine zänkische Ehefrau usw.
Wickram hat mit dieser Publikation an eine sehr verbreitete Tradition angeknüpft, diese aber entscheidend verändert. Eine wesentliche Rolle spielen im Losbuch die genau auf den Text bezogenen Illustrationen, die zumindest unter Beteiligung des Autors entstanden sind, vielleicht sogar ganz von ihm stammen. Dass dies auch für andere Werke Wickrams gilt, wird heute als wahrscheinlich angesehen. Die germanistische und die kunstwissenschaftliche Forschung haben das abfällige Urteil über Wickrams Fähigkeiten als „selbgewachßener moler“ mittlerweile revidiert und machen sich daran, diese Seite des Künstlers genauer zu untersuchen.

Zu Wickrams Ambitionen als Organisator des kulturellen Lebens in Colmar gehörte auch, dass er als Buchhändler agierte. Jedenfalls wird er 1543 so bezeichnet, und gesichert ist, dass er ein Jahr vorher zum Reichstag in Speyer und zur Messe in Frankfurt fuhr, um im Auftrag des Stadtrates eine Plutarchübersetzung des städtischen Obristenmeisters Boner zu vertreiben. Seine wichtigste Transaktion war der Ankauf der bedeutendsten Handschrift von Meisterliedern aus dem 14./15. Jh. Ursprünglich aus dem Mainzer Raum stammend, konnte Wickram sie im Dezember 1546 in Schlettstadt von einem Schiffer erwerben. Diese ‚Kolmarer Liederhandschrift’, die sich heute in der Münchner Staatsbibliothek befindet (Signatur Cgm 4997), enthält über 100 Melodien und 900 Texte und bot das Schulungsmaterial für die Meistersingerschule.

Der Meistersang war als Zunft organisiert und setzte voraus, dass die Mitglieder ehrbare Bürger der Stadt waren. Die Verleihung des Bürgerrechts Mitte des Jahres 1546 an Wickram war vermutlich Voraussetzung und Anstoß dafür, dass dieser zum Gründer einer solchen Schule in Colmar werden konnte. Stolz schreibt er 1549 auf eine von ihm gefertigte Abschrift von Meisterliedern des Hans Sachs :
Und gehort diss Bůch der gemeinen singschůl zů Colmar, ward angefangen zů schriben Durch Jergen Wickramenn Tichter und anfenger dieser schůlen.“
Schon 1545 hatte er ein Wandgemälde mit biblischen Figuren und zwölf Meistersingern für diese Schule gemalt (es ist nicht erhalten), dann o.a. Liedersammlung gekauft und unmittelbar danach „vff volgendenn weinacht tag Sampt einer geselschaft die erst schůl gehalten“, schließlich die Tabulatur mit den Regeln für Text und Musik sowie die Satzung verfasst und 1549 vom Stadtrat genehmigen lassen. Wahrscheinlich hat er auch für diese Schule getextet und komponiert, überliefert ist kein Lied, das Wickram eindeutig zuzuordnen wäre.

Ab 1546 waren Wickrams soziale Stellung und sein Platz im Kulturleben der Stadt Colmar gesichert. Jetzt konnte er als Schriftsteller gewissermaßen experimentieren und sich der epischen Gattung zuwenden (ob auch der 1539 anonym erschienene Roman Ritter Galmy von Wickram stammt, ist nicht gesichert und wird heute angezweifelt). 1551 erschien Gabriotto und Reinhart, es folgten Der jungen Knaben Spiegel (wozu komplementär das gleichnamige Spiel und der Dialog Vom ungeratnen Sohn und das Spiel Knabenspiegel gehören), Der Goldfaden (beide 1554) und Von guten und bösen Nachbarn (1556) – längere Prosaerzählungen, die in der Germanistik als frühe Formen des deutschen bürgerlichen Romans verstanden werden. Besonders die drei letztgenannten gelten als Werke, die Ansätze einer neuen, bürgerlichen Welt entfalten und Perspektiven der Überwindung der ständischen Gesellschaftsordnung aufweisen. Beliebt und bis in die heutige Zeit mit einzelnen Texten in Lesebüchern vertreten ist die Schwanksammlung Das Rollwagenbüchlein (erstmals 1555), die noch zu Lebzeiten Wickrams mehrmals erweitert wurde und 111 kurze Geschichten enthält. Sie erzählen in meist humorvoller, pointierter Weise vom Alltag der Stadtbürger, der Bauern und der ‚fahrenden Leut’, machen deren Lebensgewohnheiten und Vergnügungen deutlich und geben anschauliche Einblicke in die religiöse und soziale Umbruchszeit des 16. Jhs. Der Dialog Von der Trunkenheit (1551), die Beispielsammlung Die sieben Hauptlaster (1556) sowie der als Versepos gestaltete Reiseroman Der irr reitende Pilger (1555) sind teils unterhaltsame, teils moralisierende Texte, die den Formenreichtum des epischen Werkes abrunden.